Gerade, grade, grad - drei Wörter, eine Bedeutung. Oder doch nicht? Die Temperatur wird in Grad Celsius angegeben, aber der beste Freund ist "grad um die Ecke" verschwunden, ohne dass er Fieber hätte ... Und ob die Linie nun gerade und mit dem Lineal gezogen wurde oder grade erst wegradiert wurde, hat mit fehlenden oder vorhandenen "e" wenig zu tun.
Es scheint sich also nicht nur um ein Wort zu drehen: Das mysteriöse gerade, grade, grad oder Grad bezeichnet verschiedene Dinge, die nicht zwangsläufig etwas miteinander oder gar mit den eben schon erwähnten Buchstaben "e" zu tun haben. Wir haben es mit drei Substantiven und dazu noch einem Adjektiv zu tun. Fühlen wir dem doch gerade mal auf den Zahn!
Substantive: Ein Grad Celsius, zwei Grad Nord, ein akademischer Grad und die Gerade in der Mathematik
Ein Grad ist grundsätzlich eine messbare Stufe oder eine Abstufung. Dabei kann es sich um eine Abstufung der Temperatur (Celsius, Fahrenheit, Kelvin) oder ein Winkelmaß (der rechte Winkel hat 90 Grad) handeln. Bei Letzterem sprechen wir auch vom Bogengrad oder dem Gradmaß. Reden wir allerdings von der Viskosität, die im Ingenieurwesen manchmal eine Rolle spielt, geht es um die Engler-Grade. Ein Grad, zwei Grade: Das Substantiv gibt es im Singular wie im Plural. Und sogar die Dichte wurde früher in Grad angegeben. Man sprach dann von Grad Baumé, der Gradeinteilung der Aräometerskala. Benannt nach dem französischen Chemiker Antone Baumé, ist diese Skala heute allerdings nicht mehr üblich. In der Obstindustrie ging es ohnehin immer um Grad Brie, benannt nach dem preußischen Ingenieur Adolf Ferdinand Wendelaus Brig. Der entwickelte 1870 diese Maßeinheit, die bei der Bestimmung des Mostgewichts zur Weinherstellung wichtig ist.
Ein Grad kann jedoch auch ein Rang sein. Im Militärwesen ist der Dienstrang oder Dienstgrad am Rangabzeichen der Uniform oder der Kopfbedeckung ablesbar. Feuerwehr und Polizei kennen diese Dienstgrade genauso wie die deutsche Zollverwaltung und die Bundesforstverwaltung. Von akademischen Graden sprechen wir, wenn es um eine an einer Hochschule erreichte Abschlussbezeichnung geht. Wie genau es um die akademischen Grade bestellt ist (auch hier Singular Grad und Plural Grade) legt das Hochschulrahmengesetz fest. Der Diplomgrad war früher genauso geläufig wie der Magistergrad, im Rahmen der Bolognareform wurde der Bakkalaureusgrad zusammen mit dem Magistergrad üblich. Gängig sind allerdings die englischsprachigen Bezeichnungen Bachelor und Master. Nach dem Magistergrad kann die Auszeichnung als Meisterschüler an den Kunsthochschulen erworben werden, in anderen Studienfeldern steht der Doktortitel zur Verfügung.
Die Gerade in der Mathematik ist dagegen ein Element der Geometrie und hat bestenfalls etwas mit den entsprechenden akademischen Graden der mathematischen und ingenieurwissenschaftlichen Studiengänge zu tun. Wir sprechen von einer Geraden, wenn wir eine gerade und unendlich lange, unendlich dünne und in keiner Richtung begrenzte Linie vor uns haben. Genau genommen ist die Gerade immer gerade, mit dem gleichlautenden Adjektiv lässt sie sich also ganz gut beschreiben. Eine Gerade kann von mehreren Geraden gekreuzt werden, hat aber auch (zumindest theoretisch) unendlich viele parallel verlaufende Geraden. Will heißen: Was im Singular die Gerade ist, sind im Plural die Geraden.
Geradeaus oder geradeheraus? Vielleicht auch jetzt gerade oder gerade eben erst?
Schauen wir uns die Adjektive an: Gerade ist, als Adjektiv oder gelegentlich auch als Adverb gebraucht, in der Regel eine Abkürzung. Gemeint ist bei diesem Ausdruck geradewegs oder geradeaus, geradeso, geradezu, geradeheraus oder ähnliches. Gerade bringt die Geradlinigkeit zum Ausdruck. Jetzt ist niemals so stark im gegenwärtigen Augenblick verankert wie gerade jetzt, und wenn man etwas so in etwa schafft, ist das weniger knapp, als wenn man es geradeso schafft. Das Adjektiv mag also auch als Verstärkung gebraucht werden.
Die Sache mit der Umgangssprache
Eigentlich sollte jetzt geradezu sonnenklar sein, wann wir von "gerade", wann von "Grad" und wann von "grade" sprechen. Eigentlich könnte die deutsche Sprache ganz einfach sein. Ist sie aber nicht, denn wir sind sprechfaul. Deshalb sparen wir uns bei Adjektiv und Adverb "gerade" gerne ein "e" oder zwei und machen galant "grad" oder "grade" daraus. Sogar aus der Geraden wird im Mathematikunterricht meist eine "Grade", die mit dem akademischen Grad des Unterrichtenden nichts zu tun hat. Groß- und Kleinschreibung helfen beim Verstehen nur bedingt weiter, denn in der gesprochenen Sprache spielt die Orthographie keine Rolle. Wie also behelfen wir uns?
In der Regel wird aus dem Kontext heraus klar, ob die Rede von akademischen Graden, der Maßeinheit, einem Rangabzeichen oder einem Adjektiv ist. Wie heißt es nun richtig? Sprechen wir vom Adjektiv, ist "gerade" immer richtig. Umgangssprachlich darf es auch einmal ein "grade" oder "grad" werden. Im Schulaufsatz hat das aber genauso wenig verloren wie in der Amtsantrittsrede eines Bundespräsidenten oder in der Tageszeitung. Geht es um die genannte gerade Linie in der Mathematik, ist das korrekt immer eine "Gerade", die ihre beiden "e" wirklich liebt und nicht darauf verzichten will. Nur bei Maßabstufungen und Graduierungen (auch Graduierungen akademischer, militärischer oder sonstiger Art) darf das "e" wegfallen, denn hier hat es wirklich nichts verloren.